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Herbstgedanken 

Auf einmal ist es Herbst. Gerade noch habe ich über 37 Grad in meiner Dachwohnung geschimpft, jetzt sitze ich mit Kuscheldecke und dicken Socken am Laptop und wundere mich, wie schnell die Zeit verfliegt. Klar, das tut sie immer – und doch dieses Jahr ganz besonders. 

Unser positiver Schwangerschaftstest ist jetzt bald sechs Monate her. Ein halbes Jahr, in dem so viel passiert ist. In dem nach wie vor so viele Dinge Thema in der Welt sind, bei denen ich emotional nicht mitkomme. Krieg, Energiekrise, Inflation bestimmen die Schlagzeilen, Corona, das Mittelmeer und Afghanistan scheinen in der Versenkung verschwunden zu sein. „Die Zeiten sind schlecht“, sagt meine Vermieterin. Da hat sie wohl Recht. Und auch privat waren es wohl die aufwühlendsten Monate meines Lebens. Und mit die schönsten.  

Wehmütig denke ich an unsere Ostseetage an Ostern zurück. Als der Frühling vor der Tür stand und ich mich wie frisch verliebt gefühlt habe. Und es irgendwie auch war. In meine Frau, in diese Hoffnung, in dieses Leben. Die Tage wurden länger und auf einmal schien so viel möglich. 

Dann kam der Alltag. Morgens früh raus, den Kreislaufproblemen trotzend und möglichst nur mit ein oder zweimal Erbrechen zur Arbeit kommen. Irgendwie realistisch bleiben und sich nicht im stetigen Schwanken zwischen „Bilde ich mir die Schwangerschaft nur ein“ und „Hoffentlich geht alles gut“ zu verlieren. Meine Emotionalität fuhr Achterbahn – gleichzeitig rang ich um berufliche Professionalität. Dabei brachte doch selbst ein umgeknicktes Gänseblümchen meine Gefühle in Wallung. 

Ich weinte und fluchte so viel wie noch nie in meinem Leben. Ich mein – da war ein neues Leben in meinem Bauch. Ich wollte es beschützen – und die Menschen draußen blieben einfach genauso rücksichtslos wie immer. 

Da Corona doch noch existierte landete ich durch die Schwangerschaft im Präsenzverbot. Auf einmal fand ich mich mit Laptop am Wohnzimmertisch wieder. Statt mitten drin und ständig im Kontakt mit Menschen schrieb ich Konzepte und war im ersten Moment sehr glücklich über die Ruhe. Kein Kotzen mehr auf dem Gemeinschaftsklo, keine knapp überholenden Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit. Im zweiten Moment irgendwie auch sehr alleine und außen vor. Meine Frau, die nachmittags zuhause arbeitet und bis dato ihre Ruhe vor mir hatte, musste sich neu sortieren. Sowieso. Sie hatte sich so wacker geschlagen in unseren theoretischen Überlegungen, wurde zur Expertin im Kinderwunsch und zu meiner Heldin auf dem Weg. Wir hatten über alles gesprochen – über die Bürokratie, die Orga und wie wir uns aufteilen wollen, wenn das Kind da ist. Doch über die 40 Wochen dazwischen – nicht. 

Wie auch – wir hatten beide keine Ahnung. Ich nicht, wie viel Angst und Unsicherheit die Schwangerschaft mit sich brachte. Es ist eine Chance, einen Kinderwunsch mit viel Recherche und Austausch umzusetzen. Und gleichzeitig heißt es auch viele Geschichten zu kennen. Die leider manchmal kein Happy End haben. Mit den körperlichen Veränderungen kam Sicherheit, aber auch Einschränkung. Der Wusel in mir wollte doch weiter Reiten, Rad fahren, die Wohnung umbauen – und kam mit jeder Woche mehr an seine Grenzen. Hätte mich vorher jemand gefragt, hätte ich voller Überzeugung geantwortet: Interessiert mich nicht! Tat es aber doch. 

Meine Liebste folgte mir ergeben beim Abarbeiten der To-do-Listen, die werdende Eltern auf den Prüfstand stellen – mussten wir uns doch mit Elterngeld, Elternzeit, unserer rechtlichen Lage als Regenbogenfamilie und Pränataldiagnostik auseinandersetzen. Skeptisch betrachtete sie in der 10. Woche unser erstes Ultraschallbild, ein schwarz-weißes Kunstwerk mit einem gummibärchen-förmigen Wesen in der Mitte. Das war also unser Kind. Irgendwie schön – aber auch viel zu abstrakt. Dabei hatten uns doch alle prophezeit, dass wir spätestens mit diesem Foto in absoluter Liebe versinken werden. Und wir saßen da und guckten. 

Möglicherweise verbringen einige Menschen die Zeit vom positiven Test bis zur Geburt in absoluter Euphorie. Aber ist Glück so absolut? Oder ist es nicht gerade charakteristisch an Gefühlen, dass sie so vielfältig sind? Und dass es sie nur im Gesamtpaket gibt? Also zur Freude auch die Ungläubigkeit, die Zweifel, die Angst, die Hoffnung. „Wholehearted living“ nennt die us-amerikanische Soziologin Brené Brown es, wenn wir uns trauen, authentisch zu sein und zu dem zu stehen, wer wir sind und was wir fühlen. Und uns dabei selbst wertschätzend und wohlwollend begegnen. 

Gerade zappelt unser Baby in meinem Bauch. Und gerade fühlt sich alles richtig an. Die Aufregung, die Ungläubigkeit, die Einschränkungen und das Glück. „Owning our story and loving ourselves through that process ist he bravest thing we’ll do.“ sagt Brown. Und ich glaube, sie hat verdammt ziemlich recht. 

geschrieben von Julie


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